88. Tag, Rest: 278 Tage
George hat in Birmingham zu tun und nimmt mich mit. Wir fahren mit dem Auto, nutzen die verkehrsarme Zeit und sind zwei Stunden später da. Mit dem Zug dauert es 70 Minuten, aber man muß erst einmal zur Euston Station in London kommen, wo man dann umsteigt. Seine Verarbredung dauert nicht lange und danach hat er Zeit für eine Tour nach Chester eingeplant. Das waren dann noch einmal gut 100 km Fahrt Richtung Nord-Westen, aber es lohnte sich. Chester ist eine wunderschöne Stadt am River Dee, nahe der Küste. Auf den ersten Blick bin ich futsch und weg. Ihm erkläre ich es lieber als “love at first sight”, aber das kriegt er auch in den falschen Hals und denkt ich rede von ihm.

Wohl ähnlich alt wie London, also vor 2.000 Jahren von den Römern gegründet, liegt Chester, von einer fast intakten Stadtmauer umgeben, vor uns. Wir parken am Fluß, der hier schnurgerade Richtung Ozean fließt. Bestimmt ein ehemaliger Kanal. George ist überrascht, das ich den Namen weiß: River Dee. Also das ist eine komische Sache, denn wo immer wir bisher waren, hießen die Flüsse ausnahmslos Dee. Entweder ist dieser River Dee unendlich lang und windet sich durch ganz England oder alle fließenden Gewässer tragen denselben Namen. Vielleicht ist es am Ende gar kein Name, sondern ein Begriff???
Im schmucken Chester findet man viele gut erhaltene Fachwerkhäuser. Sie präsentieren sich Giebel an Giebel im Ortskern. Zugängig sind sie über Fußgängerzonen. Im Erdgeschoss haben zahlreiche Shops und Cafés geöffnet. Alles sehr nett, proper, einladend. Ich fühle mich auf Anhieb wohl. Hier würde ich sofort hinziehen.

Wir sind in der Grafschaft Cheshire, ein Name der mir nicht ganz leicht über die Zunge rollt. Wenn ich aber an den gleichnamigen Käse denke, entspannt sich mein Mund. Wir erfahren, dass die Milch dafür von Holstein-Friesian-dairy-cows stammt und die sehen genau so aus, wie ich es mir gedacht hatte: schwarz-weiß. Aber wir lassen das Landleben heute links liegen und wenden uns dem Zentrum zu. Erst einmal besuchen wir das Visitor Center, ein stattlicher Bau, der leicht zu finden ist und auf Leute wie uns gespannt wartet. Wir bekommen etliche Flyer und Prospekte in die Hand gedrückt und werden mehrmals auf die Cathedral hingewiesen. This is a must see! Ja, wenn es so ist, dann man hin.

Gleich gegenüber sehen wir den mächtigen Bau schon hinter und über den Baumwipfeln. Es ist die Cathedral von Chester, eine Kirche wohl an die 1.000 Jahre alt und prachtvoll erhalten. Dort will George mir einiges zeigen. Es ist wenig los, aber wir dürfen auf eigene Faust alles erkunden. Nachmittags werden auch Führungen angeboten. Man bittet uns eine Spende in Höhe von £3 in die donation box zu werfen. Das geht in Ordnung. Wenig später stehen wir dann ganz alleine in der riesigen Kathedrale.
Das Kirchenfenster erzählt wohl die Geschichte der Könige; ich erkenne einige Wappen. Die Kirche hat aber viel mehr für den Besucher zu bieten. Gerne nutzen wir die Möglichkeit einen Lunch zu nehmen. Das wird im ehemaligen Refektorium angeboten, also dort wo auch schon die Mönche ihren Speisesaal hatten. Eine angenehme Ruhe herrscht hier, obwohl einige Touristen sich inzwischen eingefunden haben. Sie reden miteinander, aber der Schall wird nicht weit getragen. Vielleicht ist es die Größe des Raumes, die den Lärm einfach verschluckt. Der Saal wurde im 13. Jahrhundert erbaut, ist heute eine top renovierte dining hall, mit einer original nachempfunden Einrichtung. Lange Tische und Bänken bieten den Gästen Platz und man gleitet schnell in eine innere meditative Ruhe, die die einfache Mahlzeit zu etwas Besonderen macht. Paradoxerweise kann man gleichzeitig das free WiFi nutzen, um die Mails abzuarbeiten. Eine gewagte Mischung, die aber hunderprozentig gelungen ist. Meine Hochachtung gilt den Architekten und Planern des Konzepts. Das wird draußen kompromisslos fortgeführt. Man taucht in eine weitläufige Gartenanlage ein, mit einer Kräuter- und Apothekerecke. Und als Attraktion findet sich mitten im Klostergarten eine Falknerei. Ich lerne ganz nebenbei die Namen der herrlichen Greifvögel: Owls, falcons and hawks. Das ganze wird als professionelle Show angeboten, wofür weitere £3 fällig werden.

Die größte Überraschung entdecken wir erst nach dem Essen, als wir noch einmal durch den Kirchenraum gehen. Noch immer ist alles leer. Kein Mensch weit und breit. In einer Ecke liegt ein gewaltiges Kreuz auf dem Boden, daran Jesus Christus. Dann sehe ich noch ein zweites und drittes Kreuz daneben liegen. Das wollen wir uns noch ansehen. Mir fällt wieder ein, warum ich so selten in die Kirche gehen. Es hat mit diesem Kreuz zu tun. Mit der Szene, die uns da gezeigt wird. Ein gequälter Mensch, nach der Folter, der alleine gelassen wurde und nun auf seinen Tod wartet. Er wird große Schmerzen haben, das war mir schon als Kind klar, denn die Nägel in den Füßen und Handgelenken sind nicht zu übersehen. Ich fand das immer schockierend und konnte die Botschaft nicht verstehen. Das gilt bis heute. Warum wird uns Jesus immer in diesem Moment seines Todeskampfes gezeigt? Ist das nicht ein höchst privater Moment? Ein Augenblick der keinen Zuschauer bedarf? Ich empfinde es so und bin immer peinlich berührt, wenn ich in irgendeiner Kirche den sterbenden Jesus am Kreuz entdecke. Hier nun hat sich ein Künstler des Themas angenommen. Zeitlich passt es bestens, denn am Karfreitag gedenken wir des Todes von Jesus und lassen uns jedes Jahr aufs neue die Hinrichtung im Detail erzählen. Wie aber der Künstler David Mach hier den Schmerz dargestellt hat, nimmt mir für einen Augenblick den Atem. Selten habe ich es so physisch nachgefühlt. Das war sehr beeindruckend.

The boss himself says:
George says: „Let’s find a hotel room and spend a second day in Cheshire. It’s one of the jewels amongst our beautiful places in the North.”
Und ich: “Chester ist die erste Stadt neben London, die mich wirklich begeistert. Nicht zu groß und nicht zu klein. Aber durch und durch englisch. Hier könnte ich es aushalten.”

Auf der Rückfahrt blättere ich mich durch die vielen Prospekte, die wir im Visitor Center bekommen haben. Ich staune nicht schlecht als ich dort lese, dass der größte Teil von Chester in privater Hand ist! Grundstücke und Häuser gehören dem sechsten Duke of Westminster, der den Namen Gerald Grosvenor trägt. Er soll zu den reichsten Männern der Insel gehören. Sein Vermögen, bzw. der Gegenwert seiner Besitztümer, dürfte sich auf rund acht Millarden Pfund Sterling belaufen. Das ist unvorstellbar viel Geld. Ich habe keine Ahnung von der Struktur des Hochadels in England, aber es gibt offensichtlich noch immer ganze Grafschaften, die sich im Besitz von Familien befinden. Wie weit diese Dukes dann auch Einfluß auf das Leben der Bevölkerung nehmen können, entzieht sich meiner Vorstellung. Wer es aus eigenen Erlebnissen weiß, möge sich bitte melden.
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