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Weil ich schon mein zweites Jahr in England verbringe, bemerke ich Wiederholungen. Alljährliche Rituale, wie zum Beispiel das stets vorprogrammierte Verkehrschaos über die Ostertage. Betroffene Kurzurlauber werden weinen, ich kann darüber eher schmunzeln. Eine andere Nachricht, die ich schon letztes Jahr staunend zur Kenntnis nahm, lässt mich zusammenzucken. Es geht um die jährliche Bilanz der “winter deaths”. Damit sind Verstorbenes des letzten Winters gemeint, deren vorzeitiger Tod ursächlich auf die kalte Witterung zurückzuführen ist. Wie kann das sein? Wo doch die durchschnittliche Winter-Temperatur immer um 5° Celsius liegt. Frostperioden gab es so gut wie gar nicht (ich rede hier von London und Südengland). Und doch wurden zwischen Dezember und März 2015 unglaubliche 44.000 “excess deaths” registriert. Also ein “Toten-Überschuß”, der einzig und alleine auf die kalten Bedingungen zurückzuführen ist. In den letzten vier Monaten starben in London 26% mehr Menschen als in allen anderen Jahreszeiten. Leider für Fachleute keine Überraschung, denn die Zahlen fallen immer gleich aus und steigen seit der Jahrtausendwende sogar stetig an. Was sind die Gründe für diese katastrophale Bilanz?

Nun, die Engländer können generell mit dem Winter nicht gut umgehen. Irgendwie sind sie nicht in der Lage sich gegen Kälte, Glätte, Frost und Schnee angemessen zu schützen. Wenn in London der Verkehr komplett zusammenbricht, inklusive der U-Bahn, und der Grund dafür ein nächtlicher Schneefall von max. 3 cm Höhe ist, dann finde ich das sehr amüsant. Auch wenn beherzte Autofahrer mit abgefahrenen Sommerreifen über vereiste Autobahnen rutschen. Aber das Jahr für Jahr Londoner in ihren Wohnungen elendig frieren, ist skandalös. Es trifft meistens alte, arme, hilflose Menschen, die ganz ohne Heizung auskommen müssen. Wer sich ungeschützt länger als zwei Stunden in einem Raum mit weniger als 9° Celsius aufhält, fängt an lebensgefährlich auszukühlen. Seine Kerntemperatur beginnt zu sinken. Das ist dann der Beginn des Sterbens. Im Parlament hört man Sätze wie: “Older schoud not have the choose between heating and eating.” Aber genau das ist der Fall! Die Wohnungen der armen Menschen sind meisten so gut wie gar nicht isoliert und sie haben keine effiziente Heizung. Also versuchen sie mit Elektroöfen ein wenig Wärme in den Wohnraum zu bekommen, aber das können sie gar nicht bezahlen. Es gilt als normal mehr als 10% des Nettoeinkommens für Heizkosten zu verwenden. Bei geringen Einkünften steigt der Anteil schnell auf 50%. Wer keine zehn Prozent für Heizkosten ausgeben kann, gilt im offiziellen Sprachgebrauch als “fuel poor”.

“Countries like Finland and Germany have significantly lower levels of excess winter deaths, despite having colder winters than us.” Auch ein Statement eines führenden Politikers. Er ergänzt, das aktuell geschätzte 4,5 Millionen Haushalte in UK (davon 3 Millionen in England) in die Kategorie fuel poverty einzuordnen sind. Das sind über 15% der privaten Haushalte! – Es ist für mich schwer nachvollziehbar, dass man nicht mit aller Macht gegen dieses Übel vorgeht. Natürlich bedarf es großer Anstrengungen. Viele Häuser müssten von Grund auf isoliert werden. Dazu brauchen die Menschen sicherlich finanzielle Unterstützung und Anreize. Aber hier steckt der Engländer den Kopf in den Sand. Und zwar ganz tief. Hier reagiert er wie immer mit Optimismus und hofft auf milde Winter. Es wird schon gut gehen. Ein Motto, das in diesem Fall tödliche Folgen haben kann.

Leider gibt es noch einen weiteren unguten Effekt, der unmittelbar mit dem Thema zusammenhängt. Statt sich und die Wohnung effizient gegen die Witterung zu schützen, probiert man lieber kostengünstige Spontanlösungen aus. Dazu gehört das Aufstellen von Holzöfen. Sie sehen gemütlich aus, aber sie qualmen ganz fürchterlich und sind ein echtes Gesundheitsrisiko. Inzwischen sollen schon wieder über 10% der Londoner Haushalte mit solchen Öfen befeuert werden. Ich kann mich nur wundern, denn m.W. ist das nicht erlaubt. Allerdings schlägt hier vielleicht eine andere Eigenschaft des Engländers zu Buche. Nämlich das Vorschriften aller Art bestenfalls als Empfehlungen verstanden werden. Hoffentlich setzt sich bald die Vernunft durch. Schon jetzt ist regelmäßig viel zu viel Smog in der Londoner Luft. Im Sommer liegt das Zentrum unter einer bedrohlichen Dunstglocke. Das haben die Londoner doch alles schon einmal erlebt. 1952 bekamen Zehntausende ersthafte Atemprobleme. Binnen weniger Tage im Dezember war die Luft so mit Kohlenmonoxid angereichert, dass das Atmen schwer viel. Anschließend wurde dann das offene Kaminfeuer verboten. Aber schon damals verniedlichten die Londoner die bedrohliche Situation und nannte das Desaster einfach “pea-soup”. Abwarten bis der Wind alles wegbläst und fertig. Wer es erlebt hatte, ist heute vielleicht zu alt, um laut zu warnen. Hoffen wir, dass die Londoner diese bittere Erfahrung nicht ein zweites Mal machen müssen, um dann daraus, mit reichlich Verspätung, endlich die richtigen Schlüsse zu ziehen.


The boss himself says:
George says: „Behind the figures are many individual tragedies of older people dying needlessly before their time.”
Und ich: “Heute konnte ich leider nichts beitragen, um die Stimmung der Leser zu heben. Ab morgen wird es wohl wieder in gewohnter, typisch englischer Manier weitergehen. Dann darf wieder gelacht werden.”
Was passierte noch am 30. März?
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1971 |
Als erstes Umweltschutzgesetz wird in der BRD das Gesetz gegen Fluglärm rechtswirksam. – Vorher gab es keinerlei Regelungen! |
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1863 |
Prinz Wilhelm Georg von Holstein-Sonderburg-Glücksburg wird als Georg I. zum König von Griechenland gewählt. – Prinz Philip ist sein Enkel. Er hat dänische Wurzeln. |